Der Schlafwandler

(eine Kurzgeschichte von Kirsten Nähle)

 

Es war eine laue Sommernacht. Der Vollmond zeigte ihm den Weg durch den stillen Park. Keine Menschenseele begegnete ihm, aber er wusste genau, wo sie auf ihn warten würde. Er war barfuß und nur mit Boxershorts und Unterhemd bekleidet, doch das störte ihn nicht.

 

Als er über die große Wiese lief, kitzelte das Gras angenehm unter seinen Füßen. Er musste kichern. So lebendig hatte er sich lange nicht mehr gefühlt. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein. Dort hinten am See würde sie auf der Bank sitzen und beobachten, wie der Mond sich auf der Wasseroberfläche spiegelte.

 

Er beschleunigte seine Schritte, konnte es kaum erwarten … Jemand packte ihn von hinten an der Schulter.

 

„Opa?“

 

Er erwachte, wurde wieder einmal unsanft geweckt. Von seiner Enkeltochter. Benommen schaute er sie an.

 

„Was machst du denn hier im Garten?“ fragte die 16-Jährige. „Es ist mitten in der Nacht.“

 

„Sie hat mich gerufen“, antwortete der alte Mann, um seinen nächtlichen Ausflug zu erklären.

 

„Wer denn? Oma?“ 


Er sah sie verwirrt an und schüttelte den Kopf.


„Du hast nur geträumt, Opa. Und bist wohl wieder schlafgewandelt. Komm lieber rein.“

 

„Aber sie wartet doch auf mich. Im Park.“ Sarah sah Tränen in den Augen ihres Großvaters aufblitzen.

 

„Wir gehen morgen zusammen in den Park, okay?“ Liebevoll schob sie den alten Mann ins Haus und schloss die Terrassentür. Sie wunderte sich, dass er diese im Schlaf hatte öffnen können.

 

Es war nicht das erste Mal, dass ihr Großvater schlafwandelte. Seit dem Tod seiner Frau passierte das öfter, allerdings hatte er dabei noch nie das Haus verlassen. Sarah brachte ihren Großvater zurück ins Bett und legte sich dann selbst wieder hin.

 

 

 

Ihren Eltern erzählte sie nichts vom nächtlichen Ausflug ihres Großvaters. Ihre Mutter würde sich nur wieder Sorgen machen.

Ein knappes Jahr war seit dem Tod von Oma vergangen, und seitdem hatte sich ihr Großvater immer mehr innerlich zurückgezogen. Aus dem lustigen Menschen war ein nachdenklicher, zerstreuter Mann geworden.

 

Beim Frühstück zwinkerte Sarah ihm verschwörerisch lächelnd zu.

 

„Ich werde gleich mit Opa einen Spaziergang im Park machen“, verkündete sie ihrer Mutter.

 

Diese nickte dankbar. „Das wird ihm sicher guttun.“

 

Ihr Großvater ging nicht darauf ein, sondern fragte stattdessen: „Könnte ich bitte mal den Zucker haben?“

 

Sarahs Mutter seufzte. „Du hast doch eben erst zwei Teelöffel in deinen Kaffee getan.“

 

Überrascht sah der alte Mann sie an. „Wirklich? Na, also, das wüsste ich aber.“

 

„Es ist erst fünf Minuten her. Probiere doch bitte deinen Kaffee. Er ist süß genug.“

 

Ihr Vater nippte an der Tasse. „Mhmmm“, murmelte er. „Ja ja, ist in Ordnung. Und wo ist die Zeitung heute?“

 

Sarah merkte, wie ihre Mutter kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Denn ihr Opa hatte diese Frage heute beim Frühstück schon einmal gestellt.

 

Schnell sagte Sarah deshalb das, was ihre Mutter ihm schon vor ein paar Minuten geantwortet hatte. „Heute ist Sonntag, Opa. Da kommt keine.“

 

 

Auch im Park schien er geistesabwesend. Sarah hatte den Eindruck, dass ihn irgendetwas stark beschäftigte.

 

„Ist alles in Ordnung, Opa?“

 

Er blieb stehen, blickte sie stirnrunzelnd an und flüsterte dann: „Wer war die Frau heute Morgen beim Frühstück?“

 

Sarah zuckte zusammen und musste schlucken, bevor sie antwortete. „Melissa, deine Tochter und meine Mutter. Erinnerst du dich denn nicht an sie?“ Wurde ihr Opa jetzt total verrückt?! Sarah bemerkte, wie ihr Großvater verzweifelt in seinem Gedächtnis wühlte und dann aufgab.

 

„Gehen wir zum See“, meinte er mürrisch und lief zu der kleinen Holzbank. Seine Enkeltochter nahm neben ihm Platz. Sie merkte, dass ihr Opa traurig war und drückte seine Hand. 


Er sah sie an und bemühte sich um ein Lächeln. „Sie ist nicht hier. Sie kommt meistens nachts, weißt du. Sie bevorzugt die Einsamkeit, hat sie mir erzählt. Und ihr gefällt, wie der Mond sich im See spiegelt.“

 

„Wer denn? Meinst du Oma? Träumst du oft von ihr?“

 

Der alte Mann runzelte die Stirn. „Aber nein, doch nicht Oma.“ Seine Stimme klang enttäuscht. „Glaubst du etwa, ich bin verrückt?! Ich rede von Luise, meiner Freundin. Wir treffen uns regelmäßig hier. Besonders jetzt im Sommer, wo es auch nachts noch mild ist. Dann reden wir stundenlang. Manchmal tanzen wir auch.“ Jetzt kicherte er. „Deine Oma hat auch gerne getanzt, erinnerst du dich?“

 

Sarah nickte. Auch sie vermisste ihre Großmutter, die mit 60 Jahren viel zu früh gestorben war. Sarah fand es rührend, dass ihr Opa Trost in Gesprächen mit einer Fantasiefreundin suchte. Oder war Luise vielleicht eine Freundin aus seiner Jugend, an die er sich nun viel besser erinnerte als an die jüngste Vergangenheit?

 

„Du erzählst deinen Eltern doch nichts davon, oder?“, fragte ihr Großvater ängstlich.

 

Sarah drückte erneut seine Hand und schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht, Opa. Das ist unser Geheimnis, okay?“ Ihr Großvater strahlte. Sarah hatte ihn lange nicht mehr so glücklich gesehen. Alleine das war der Spaziergang wert gewesen.

 

 

Ein paar Tage später wachte Sarah nachts mit einem komischen Gefühl auf, das bestätigt wurde, als sie das Bett im Zimmer ihres Großvaters leer vorfand.

 

Sie lief ins Wohnzimmer. Die Terrassentür stand offen. Auch im Garten war keine Spur von ihrem Opa.

 

„Oh nein.“ Schnell zog sie sich Jeans und einen Pulli an und lief hinaus in den Park. Schon von Weitem sah sie ihn auf der Bank am See sitzen. Sarah blieb einen Moment auf der Wiese in sicherer Entfernung stehen. Noch hatte er sie nicht entdeckt. Wie klein und verletzlich er aussah. Sarah konnte nicht erkennen, ob er wach war oder schlafwandelte. Sie vermutete Letzteres, denn er hatte nur eine kurze Hose und ein Unterhemd an. Er hatte den Blick auf den See gerichtet. Wie einsam er sich fühlen musste. Oder träumte er gerade von seiner Luise?

 

Sarah schritt auf ihn zu und hielt plötzlich inne. Eine Frau setzte sich neben ihren Großvater. Sie hatte langes schneeweißes Haar. Ihr Großvater begrüßte sie mit einer Umarmung und einem Küsschen auf die Wange. Dann nahm er ihre rechte Hand in seine Linke, erhob sich und zog die Frau zu sich hinauf. Seinen rechten Arm schlang er um ihre Hüfte. Dann begannen die beiden im Mondlicht zu tanzen.

 

Sarah musste lächeln. Sie war erleichtert, dass es Luise wirklich gab. Sie sah den beiden noch eine Weile zu und kehrte dann einen Walzer pfeifend zurück nach Hause. 

 

Alle Rechte vorbehalten.