Der runde Geburtstag

(eine Kurzgeschichte von Kirsten Nähle)

 

Karen lässt ihren Blick durch die Runde ihrer Gäste schweifen. Ihre zwanzigjährige Tochter Annika ist mit ihrem neuen Freund Marcel gekommen. Toni, ihr achtzehnjähriger Sohn, hat seinen festen Freund Andy mitgebracht. Außerdem sitzen ihr Ehemann Karl, ihre Schwester Leonie und ihre beste Freundin Marie an der Tafel zu ihrem Geburtstagsessen.


Einer jedoch fehlt: ihr Lieblingsonkel Theo.


Karen hebt ihr Sektglas und prostet ihren Gästen zu. „Ihr wisst, warum ich euch heute eingeladen habe?“


„Nun ja, es ist dein Geburtstag, Mama.“ Toni nippt an seinem Sekt. „Noch dazu ein runder. Das kann man schon mal feiern.“


„Richtig. Aber das war nur die Gelegenheit, euch alle mal wieder zusammenzutrommeln. Der eigentliche Grund unseres Treffens ist Onkel Theo, genauer gesagt, sein Ableben.“


Überraschte Gesichter. Betretenes Schweigen.


„Ein tragischer Unfall“, sagt Leonie nach einer Weile.


„Ach, Schwesterherz, tu mal nicht so, als würde dir Onkel Theo fehlen.“ Karen wirft ihr einen finsteren Blick zu. „Wir alle wissen, du konntest ihn nicht leiden.“


„Unsinn. Wir hatten unsere Meinungsverschiedenheiten, aber grundsätzlich haben wir uns verstanden.“


Eine Kellnerin serviert die Vorspeise – ein Silvanersüppchen. Karen ist froh, dass sie mit der Familie in einem Separee des Restaurants sitzt und sie so ganz unter sich sind. So kann sie jedem Einzelnen in Ruhe auf den Zahn fühlen.


„Onkel Theo ist nicht verunglückt.“ Karen beobachtet die Reaktion der anderen genau, doch niemand lässt sich etwas anmerken.


„Aber Mama, er ist die Treppe hinuntergefallen.“ Annika tunkt ein Stück Weißbrot in die Suppe.  „Alle hier am Tisch wissen, wie schlecht er zuletzt zu Fuß war. Ein paar Wochen vor dem Unfall ist er schon einmal gestürzt.“


„Du hast ihn an dem Nachmittag doch noch besucht, oder?“ Karen mustert ihre Tochter. „War er anders als sonst? Fühlte er sich bedroht?“


„Wieso? Wie meinst du das?“ Annika schaut argwöhnisch drein.


„Ja, genau, wie meinst du das, und warum glaubst du, es war kein Unfall?“, fragt Karens Freundin Marie, die mit dem Daumen über die Halskette mit dem großen Rubin fährt. „Was soll es denn sonst gewesen sein?“


„Mord. Oder mindestens Totschlag.“ Karen hält den Suppenlöffel in die Höhe als wäre er ein Beweisstück.


Ihr Mann Karl lacht auf. „Schatz, du hast wirklich zu viele Krimis geschaut. Wieso sollte jemand Onkel Theo umbringen?“


„Das werde ich heute herausfinden. Und auch, wer von euch ihn getötet hat.“ Niemand am Tisch lacht mehr. Alle starren sie an, als hätten sämtliche Nervenzellen, jetzt da sie vierzig ist, bereits ausgedient.  „Also, Annika, was hast du an Onkel Theos Todestag von ihm gewollt?“


„Marcel und ich haben ihn nachmittags besucht. Theo hat uns gebeten, ihm mit seinem Rechner zu helfen, der machte Probleme. Wie du weißt, war er in technischen Dingen nicht so bewandert. Als wir gegangen sind, war er jedenfalls noch quicklebendig.“


„Soso. Toni, wann hast du Onkel Theo zuletzt gesehen?“


Der Hauptgang wird serviert, was die Konversation für einige Minuten unterbricht und Karens Sohn die Gelegenheit gibt, über die Frage nachzudenken. Er schneidet ein Stück von seinem Steak ab, führt es sich zum Mund und kaut in aller Ruhe, bevor er antwortet: „Andy und ich waren am frühen Morgen seines Todestags bei Großonkel Theo. Er hat uns darüber unterrichtet, dass er das Testament zu meinem Gunsten ändern würde. Wozu er dann leider nicht mehr gekommen ist.“


„Was?!“ Karen zieht die Luft ein. „Wieso hätte er das Testament ändern wollen? Er hat immer wieder betont, dass ich seine Lieblingsnichte bin, weswegen ich ja auch das meiste von ihm geerbt habe.“


„Dann hattest du selbst ja das größte Motiv, ihn zu töten, nicht wahr, Schwesterlein?“ Leonie schenkt Karen ein fieses Grinsen. „Das Erbe ist ja üppig.“


Die ist doch nur eifersüchtig, denkt Karen. „Ich hätte Onkel Theo nie etwas angetan.“ Sie wendet sich an ihren Mann. „Karl, sag doch auch mal was. Hast du Onkel Theo an seinem Todestag noch mal gesehen?“


„Nein, Schatz, warum sollte ich?“


„Nun ja, weil du ebenso Nutznießer des Erbes bist“, antwortet Marie an Karens Stelle. Der Hauptgang wird abgeräumt, und die Kellnerin legt die Nachtischkarten auf den Tisch.


„Ich habe ein Alibi“, behauptet Karl.


„Ach ja? Erzähl mal.“ Karen ist ganz Ohr, denn sie hat sich selbst schon gefragt, wo ihr Mann an dem Abend gewesen ist. Sie vermutet, dass er eine Affäre hat und glaubt auch zu wissen, mit wem.


Karl räuspert sich. „Wenn du es genau wissen möchtest, ich war mit einer anderen Frau zusammen.“


„Aha, hab ich´s mir doch gedacht.“ Karens Mundwinkel verziehen sich zu einem verächtlichen Lächeln. „Und mit wem?“


„Spielt keine Rolle.“ Karl bestellt eine Heiße Liebe zum Nachtisch.


„Und ob es eine Rolle spielt!“ Wie kann ihr Mann es wagen, sie zu betrügen und es dann auch noch so herunterzuspielen?


„Karl war mit mir zusammen.“ Alle am Tisch drehen sich zu einer Person um: Leonie.


„Also doch. Mit meiner Schwester. Unfassbar.“ Karen muss sich zurückhalten, um ihren Mann nicht an die Gurgel zu gehen. Besser, er wäre tot als Onkel Theo, denkt sie. Ihrer Schwester wirft sie einen giftigen Blick zu. „Wie konntest du nur, Leonie!“


„Nun ja, wenigstens scheiden damit schon mal zwei am Tisch aus, was den angeblichen Mord an Großonkel Theo angeht.“ Annika bestellt einen Schnaps. „Ich denke immer noch, es war ein Unfall. Jedenfalls haben Marcel und ich Theos Haus gegen siebzehn Uhr verlassen. Ohne ihm etwas zu tun. Ich glaube auch nicht, dass Toni ihn getötet hat, da das Testament ja noch nicht geändert worden war. Es hätte ihm also nichts genutzt.“


„Dann bleibt eine Person.“ Karen kneift die Augen zusammen und schaut zu ihrer besten Freundin. „Marie! Ich weiß es schon seit Beginn unseres Abendessens, aber ich wollte mal hören, was ihr alle noch so zu erzählen habt. Alles sehr interessant.“


„Wieso sollte ich ihn töten?“ Marie schüttelt den Kopf. „Das größte Motiv hast immer noch du. Und Annika und ihr Freund behaupten auch nur, dass Theo noch gelebt hat. Meines Wissens hatte Theo auch keine Computerprobleme.“


„Na, du als seine heimliche Bettgenossin musst es ja wissen, nicht wahr?“


Marie wird blass. Karen kostet ihren Triumph aus.

 
„Ja, Theo und ich waren ein Paar“, räumt Marie ein. „Das beweist aber nur, dass wir uns geliebt und ich ihn keineswegs ermordet habe.“


„Du hast ihn geliebt, ja. Für ihn warst du nur eine von vielen. Daher hattest du auch ein Motiv. Aber ich denke auch, es war Totschlag und kein Mord.“ Karen stellt sich die Szene vor, wie die beste Freundin ihren Lieblingsonkel von der Treppe stürzt. „Ein weiteres Motiv trägst du um den Hals. Die Kette ist ein Familienerbstück und war für mich bestimmt. Zieh sie sofort aus.“


„Mein Theo hat sie mir geschenkt. Schon vor Wochen!“


„Das ist eine Lüge!“, keift Karen.


Die Kellnerin, die mit der Rechnung in der Hand zum Tisch kommt, zuckt zusammen und kehrt auf dem Absatz herum.


„Ich verstehe nur Bahnhof, Schatz“, sagt Karl an seine Frau gewandt. „Wie kommt du darauf, dass Marie Onkel Theo getötet hat?“


„Nenn mich gefälligst nicht Schatz!“, faucht Karen ihren Mann an. Dann holt sie tief Luft und präsentiert die Auflösung des Rätsels. „Es ist korrekt, dass Onkel Theo das Testament ändern wollte. Nach dem Abschied von Annika und Marcel – Theo hatte übrigens sehr wohl Computerprobleme – hat er mich angerufen und um ein Gespräch gebeten. Ich bin natürlich gleich zu ihm hin. Ich dachte, ihm ginge es schlecht. Jedenfalls hat er mir erzählt, dass er Toni alles Vermögen hinterlassen wolle, damit dieser es für eine geplante Unternehmensgründung einsetzt. Entschuldigt also mein schauspielerisches Talent vorhin. Selbstverständlich war ich über Onkel Theos Pläne unterrichtet. Er hat mir da voll und ganz vertraut. Ich war im Übrigen damit einverstanden, dass mein Sohn alles erbt, habe Onkel Theo aber gebeten, Annika wenigstens ein kleines Anstands-Sümmchen zu hinterlassen und mir selbst die Kette mit dem Rubin. Damit hätte Toni ohnehin nichts anfangen können. Onkel Theo hat mir das Familienerbstück an dem Abend zugesichert und auch noch gezeigt. Da aber Marie es heute um den Hals trägt, muss sie Onkel Theo nach meinem Besuch getötet haben. Er hätte ihr das Familienerbstück nämlich niemals geschenkt.“


Alle Blicke ruhen auf Karens bester Freundin und dem roten Rubin um ihren Hals. 

Marie entfährt ein Seufzer, und sie wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Ich habe Theo aufrichtig geliebt. So oft hat auch er mir gesagt, dass er mich liebt, mich heiraten und mir alles hinterlassen möchte. Doch an dem besagten Abend erwähnte er ganz nebenbei, dass er seinem Großneffen alles hinterlassen wird. Außerdem meinte er, dass er eine andere Frau kennengelernt habe und unsere Geschichte doch nur ein Zeitvertreib gewesen sei. Regelrecht rausgeschmissen hat er mich. Ich war so wütend!“


„So wütend, dass du ihn die Treppe hinab zur Haustür geschubst hast, nicht wahr?“ Karen bittet die sich vorsichtig nähernde Kellnerin, sich noch einen Moment mit der Rechnung zu gedulden.


Marie erhebt sich, legt die Halskette auf die Mitte des Tisches und zieht sich den Mantel über. „Theo ist gestolpert. Alles andere müsst ihr erst einmal beweisen. Feier noch schön, beste Freundin.“
 

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