Papier ist geduldig
(eine Kurzgeschichte von Kirsten Nähle)

Warum meldet er sich nicht? Ich werfe erneut einen Blick auf mein Smartphone. Er hat die Nachricht gelesen, so viel sehe ich. Wieso antwortet er dann nicht? Seine letzte SMS ist mehr als 12 Stunden her!

Ich tigere in meinem Wohnzimmer zwischen Couch und Esstisch hin und her. Vielleicht wollte er mir gerade schreiben, aber der Akku ist leer. Oder sein Handy ist kaputt. Möglicherweise ist ihm etwas dazwischengekommen. Oder – oh nein – hoffentlich ist ihm nichts passiert.

Soll ich ihn anrufen? Wenn er einen Unfall hatte und im Krankenhaus liegt, dann würde er sich freuen, wenn ich mich melde. Dann merkt er, wie viel er mir bedeutet.

Ich greife zum Smartphone, tippe seine Nummer – und lege auf. Wie erbärmlich, dass ich ihm hinterherlaufe! Von meiner Seite ist alles gesagt. Zeit, dass er Stellung bezieht.

Ich schreibe meiner besten Freundin: Stell dir vor, er meldet sich nicht.

 

Sie antwortet sofort: Echt jetzt? Was für ein Arschloch! Vergiss ihn. Hab dir ja gleich gesagt, dass er nur mal mit dir ins Bett will.

Schnell tippe ich zurück: Ich glaub das einfach nicht. So ist er nicht. Ich kann mich doch nicht so täuschen.

 

Meine Freundin lässt sich auf die Textschlacht ein: Wenn du willst, spreche ich mal mit seinem Kumpel Timo. Er kennt ihn gut. Vielleicht weiß er was.

 

Ich stimme sofort zu. Ich brauche Informationen.

Ein paar Minuten später schreibt sie: Timo glaubt, er steht auf eine andere.


Eine andere?, simse ich zurück. Wen meint er?

 

Sie bittet mich um ein paar Sekunden Geduld. Dann lese ich den Namen. Das ist doch wohl ein Witz! Und das antworte ich ihr auch.


Hat Timo gesagt, textet sie zurück. Muss ja nicht stimmen.

 

Ich frage: Wie sicher ist er?

 

Diesmal dauert die Antwort ein wenig länger. Fast versuche ich mit meinen Augen, die Worte auf das Display zu brennen.

Da blinkt die Nachricht auf: Nicht sicher.

 

Ich seufze erleichtert. Noch besteht Hoffnung. Gleichzeitig bin ich enttäuscht.

Super Quelle, schreibe ich und ergänze einen sarkastischen Smiley.

Sorry, kommt zurück, hat er immer noch nicht geantwortet?

Nein, texte ich und bin dabei fast wütender auf meine Freundin als auf ihn. Was mache ich denn jetzt? Ich kann ihn ja schlecht anrufen. Aber du könntest doch. Nur um rauszufinden, ob er überhaupt erreichbar ist und ob es ihm gut geht.

 

Die Reaktion kommt prompt: Spinnst du? Ist ja megaauffällig. Sieh es ein. Er ist ein Arsch. Sag mal, wie findest du eigentlich Timo? Meinst du, der würde zu mir passen? Finde ihn nämlich echt süß.

Ich sehe einen verliebten Smiley und lache. Timo und meine beste Freundin. Komische Kombination.
 
Ich schreibe: Der ist so albern.

Aber wenigstens kein Arschloch, kontert sie und dann: Warte mal kurz. Er schreibt gerade.

Wen interessiert das?! Ich will, dass er mir schreibt. Ich klicke zurück in unseren Chat. Schon fast 13 Stunden seit seiner letzten SMS. Es ist bestimmt was passiert.

Ein Zucken des Smartphones verrät mir den Eingang einer weiteren Nachricht … von meiner Freundin: Timo behauptet, er hat gerade eben mit deinem Typen telefoniert.

Scheiße! Dann steht er wohl wirklich nicht auf mich. Ich lasse mich aufs Sofa fallen und merke, wie mir die Tränen kommen. Er ist doch ein Arsch. Ich bin so blöd. Hätte ich ihm meine Gefühle bloß nicht gestanden. Sicher macht er sich über mich lustig. Erzählt all seinen Kumpels, wie naiv ich bin. Megapeinlich!

Es klingelt an der Haustür. Ich mache nicht auf, möchte jetzt niemanden sehen. Wieder läutet es. Verdammt! Geh weg. Lass mich in Ruhe. Ich bin nicht da.

 

Tatsächlich fühle ich mich nicht ganz beieinander. Angeschlagen. Wie ein Boxer kurz vor dem K.o. Erneut das schrille Geräusch. Jemand klingelt Sturm.
 
Ich hole mir meinen iPod, stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und lege mich aufs Sofa. Das Handy schalte ich in den Flugmodus. Ich schließe die Augen und lasse mich von meiner Lieblingsmusik berieseln. So ist es gut. 


Ich muss eingeschlafen sein. Der Uhrzeit auf meinem Smartphone nach zu urteilen, war ich mehr als zwei Stunden off. Ich atme einmal tief ein und hole das kleine Gerät zurück aus dem Flugmodus – nur um festzustellen, dass er immer noch nicht geschrieben hat. 

Seufzend erhebe ich mich und schlurfe zur Haustür. Bestimmt war das vorhin der Postbote, der geklingelt hat, weil er wieder für irgendeinen Nachbarn ein Paket bei mir abgeben wollte. Als wäre ich die Annahmestelle fürs ganze Haus!

Ich öffne den Briefkasten. Zwei Rechnungen, Werbung … ein Brief. Ein Brief? Von ihm! Ein Liebesbrief? Ein paar Sekunden starre ich auf den Umschlag. Dann flitze ich zurück in die Wohnung. Werbung und Rechnungen pfeffere ich auf den Couchtisch. Das hat Zeit. Ich reiße den Umschlag auf und halte inne.

 

Wer weiß, was in dem Brief steht. Vielleicht schreibt er, dass er eine andere mag, dass es bei ihm leider, leider nicht gefunkt hat. Erklärt, wie leid es ihm tut.


Ich greife zum Smartphone und schreibe meiner besten Freundin:
Kannst du mal bitte schnell bei mir vorbeikommen? Du musst was für mich lesen.

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